Wo bleibt die intermodale Mobilität? Ist das Problem der Mehrwert für die Anwender?

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Seit mehreren Jahren entstehen immer neue Technologien, die den Verkehr im urbanen Raum weltweit bereichern – in Asien, Amerika und Europa: vom Bike-Sharing per Smartphone bis hin zu E-Bikes mit Lithium-Ionen-Akku und E-Scootern. All diese neuen Technologien sind mittlerweile einfach und praktisch nutzbar. So sehr, dass Deutschland in 2019 seine Gesetze geändert hat, um die Nutzung von E-Scootern auf öffentlichen Straßen zu ermöglichen (Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV, Link). Seitdem sind zahllose neue Unternehmen entstanden, die die E-Bikes und E-Scooter in die Städte bringen, z. B. Bird, Lime, Tier, Voi … Doch wo bleibt der intermodale Verkehr?

Neue Technologien ermöglichen neue Geschäftschancen: von der multimodalen zur intermodalen Mobilität

Laut Wikipedia bezeichnet der Ausdruck Intermodalität „die Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel im Verlauf eines Weges“ (Wikipedia zu „Intermodalität (Personenverkehr), abgerufen am 23.07.2020). Intermodaler Verkehr ist insofern interessant als er für mehr Flexibilität auf dem Weg von A nach B sorgt. Insbesondere die Technologien für die letzte Meile, z. B. E-Scooter, wurden sehr positiv aufgenommen, da sie „eine ideale Ergänzung zu Bus und Bahn für die letzten Kilometer zum Ziel sein und damit den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver machen“ können (Achim Berg, Präsident von Bitkom, dem Digitalverband Deutschlands, Link, 2019).

Die Deutsche Telekom befasst sich seit längerem intensiv mit E-Scootern: Zum einen bieten sie Konnektivität, zum anderen waren sie bei der Gründung der Anbieter Tier in erster Reihe dabei. Gegründet von Lawrence Leuschner (Geschäftsführer), Julian Blessin (CPO) und Matthias Laug (CTO) wurde Tier 2018 im Hubraum „geboren“ (siehe Abb. 1, hubraum, Link). hubraum ist der Tech Incubator der Deutschen Telekom und hat Campus-Standorte in Berlin, Krakau und Tel Aviv (Link). Anfang 2020 hatten die Gründer von Tier bereits mehr als 130 Mio. Euro an finanziellen Mitteln aufgebracht, sodass der Betrieb in 55 Städten in 11 Ländern (Crunchbase, Link) „blitzskaliert“ („blitzscaled“, Hoffman & Yeh 2018) werden konnte.

Abbildung 1: Die drei Gründer von Tier und ein „Testfahrer“ im Telekom-hubraum in Berlin

Kein praktischer Nutzen?

Heutzutage machen in Großstädten wie Berlin die elektrischen Tretroller das Stadtbild bunt: Bird (schwarz), Lime (weiß), Tier (grün) und Voi (rot) … Und Leihfahrräder von Anbietern wie Donkey Republic (orange), Next (silber) und anderen Unternehmen bringen noch mehr Farbe ins Geschehen. Doch trotz dieser unübersehbaren Verkehrsoptionen für die letzte Strecke zum Ziel ist bislang kein intermodales Serviceangebot entstanden. Und das wirft einige Fragen auf: Weshalb nicht? Worauf warten wir noch? Eine Antwort wäre, dass es für den Endkunden keinen praktischen Nutzen gäbe.

Hypothesenprüfung mit einer datenwissenschaftlichen Modellierung und Simulationsexperimenten

Der Nutzen für den Endkunden ist das conditio sine qua non, eine unabdingbare Voraussetzung für jedes wirtschaftlich realisierbare Angebot. Ohne Nutzen für den Endkunden ist alles andere Makulatur. Betrachten wir diesen Punkt also genauer. Doch wie? Wie lässt sich der Nutzen der intermodalen Mobilität abschätzen, wenn es sie noch gar nicht gibt? Wie lässt sich das Unmögliche umsetzen, um das Wahrscheinliche zu belegen? In einem solchen Fall bietet eine Simulation als akzeptiertes wissenschaftliches Tool einen gangbaren Ansatz (z. B. Schlueter Langdon 2005). Die Simulation im Bereich der Ökonomie hat sich aus den Grundlagen der Nobelpreisträger Simon (1996) und Smith (1962) entwickelt.

Für die Simulation der Mobilität und des Verkehrs im urbanen Raum stehen verschiedene Tools zur Auswahl, beispielsweise Eclipse SUMO (Simulation of Urban Mobility), eine Open-Source-Verkehrssimulation des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR 2020, Link; Krajzewicz et al 2012), sowie die Software VMC des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM (Fraunhofer ITWM 2020, Link). Diese umfangreichen, leistungsstarken Tools ermöglichen äußerst detaillierte Analysen. Für die allgemeine Beurteilung im vorliegenden Fall haben wir ein deutlich vereinfachtes Modell verwendet (siehe Abb. 2). Sie hat sich aus der Erfahrung des Autoren mit agentenbasierten Computersimulation (Schlueter Langdon 2014, 2005; für eine schnelle Übersicht in Computersimulationen: Link) und gewonnenen Erkenntnissen aus Descriptive Analytics sowie aus ersten Fehler-Ursachen-Analysen von Daten, die weltweit mit verschiedenen gemeinsam genutzten Elektrofahrzeugen im Rahmen von Mobility-as-a-Service-Diensten (MaaS) und Pilotprojekten aus der ganzen Welt (Link), ergeben.

Abbildung 2: Ökonomische Modellierung der intermodalen Mobilität

Versuchsstrategie und Anwenderszenarien-Kaskade

Der Trick, um aus Intermodaler Mobilität Vorteile zu erschaffen, liegt in der Verbindung der verschiedenen Transportmittel für eine Reise von Anfang bis Ende, d.h. der wirksamen Nutzung von existierender und bezahlter Infrastruktur. Je stärker die Verbindung, desto besser. Weniger Reibung bedeutet schneller. Daher wird die Hypothese aufgestellt, dass die Nutzung neuer Technologien, z. B. Smartphone-Apps und E-Scooter, die Reisezeit verkürzen bzw. den Weg von A nach B beschleunigen kann: Je „smarter“, desto schneller. Zur Prüfung dieser Hypothese werden Experimente simuliert, die aus einem Basisszenario bis hin zu zunehmend smarteren Szenarien entwickelt werden. Das Basisszenario ist die selbst geplante Reise. Dieses Basisszenario bildet die wesentliche Ausgangsbeobachtung, und darauf beruhenden Ausgangsdaten werden zum Vergleich und zur Kontrolle herangezogen: Eine Person fährt mit ihrem Fahrzeug von A in die Nähe von B, parkt das Fahrzeug und geht zu Fuß zum Ziel B. A könnte die Garage und B könnte das Büro, ein Restaurant oder ein Einkaufszentrum sein (siehe S0 in Abb. 2). Dies ist das typische und daher auch das nützlichste Basisszenario (lt. Abb. 3 der vorherrschende Fall in Deutschland): Niemand kann ganz bis B fahren: durch die Vordertür, am Empfangsbereich vorbei, die Stufen hinauf ins Büro im dritten Stock. Fahrzeuge müssen also in der Nähe von B geparkt werden. Dieses Basisszenario ist in Abb. 5 als „selbst geplant“ dargestellt.

Abbildung 3: Anzahl der Reisen basierend auf Zweck und Modalaufteilung in Prozent, Deutschland, 2017 (basierend auf Nobis & Kuhnimhof 2018, p. 45, p. 62)

Abbildung 4: Durchschnittliche Reiseentfernung, Berlin, 2014 und 2019 (Civity 2019, 2014)

In den nachfolgenden intermodalen Szenarien wird jeweils angenommen, dass die Reise sukzessive immer „smarter“ wird. Die einzelnen Elemente der Reise werden also stärker miteinander verknüpft und koordiniert (siehe Abb. 2).

Zum Beispiel,auf der letzten Teilstrecke im ersten intermodalen Szenario (S1) wird der Fußweg durch eine Fahrt mit einem E-Scooter ersetzt. Im zweiten Szenario (S2) wird eine smarte Parkplatz-App, wie „Park and Joy“ der Deutschen Telekom (Link). In der App „Park and Joy“ muss der Fahrer vor Fahrtantritt das Ziel der Reise eingeben. Die App sucht dann anhand von entsprechenden Prognosedaten nach freien Parkplätzen, bietet Vorschläge an und navigiert den Fahrer zum ausgewählten Parkplatz.

Abbildung 5: Allgemeine Ergebnisse der Simulation zur intermodalen Mobilität

Schneller ankommen mit intermodaler Mobilität

Trotz der Entwicklung aus einem relativ einfachen Modell lassen die Ergebnisse einen Trend erkennen, der die Hypothese bestätigt: Je „smarter“, desto schneller. Abb. 5 zeigt eine allgemeine Darstellung der Ergebnisse. Insgesamt betrachtet zeigen die Ergebnisse deutlich, dass intermodale Mobilität einen Mehrwert darstellt. Technologien können den entscheidenden Ausschlag geben. Der Übergang von einer selbst geplanten Reise zu einem nahtlosen Szenario mit neuen Technologien kann die Reisedauer verkürzen. Diese Modellierung und die Experimente unterliegen zahlreichen Einschränkungen.

  • Zum einen sind sie nur abstrakt und verwenden einen abstrakten Ort und durchschnittliche Reisewerte. Jedes Szenario basiert auf Durchschnittswerten für Reisedistanz und Reisezeit. Zum Beispiel: „Jeder Berliner unternimmt durchschnittlich dreieinhalb Fahrten pro Tag und verbringt etwa 80 Minuten im Verkehr. Die durchschnittliche Entfernung beträgt 6 Kilometer pro Person und Fahrt. Die durchschnittliche Reisezeit […] beträgt ca. 23 Minuten “(UVK Berlin 2017, S. 12). Die Reisedistanz und -zeit variieren jedoch stark je nach Transportmittel. Für ganz Deutschland und alle Verkehrsträger (vom Fuß zum Auto) beträgt die durchschnittliche Reiselänge 12,5 km, während der Median, die Mitte, nur 3,8 km beträgt (Follmer & Gruschwitz 2019). Abbildung 4 gibt einen Überblick über die durchschnittliche Reisedistanz für verschiedene Verkehrsträger, von denen einige für unsere Szenariosegmente verwendet wurden. Wir haben außerdem die von Google Maps bereitgestellten Reisezeitschätzungen verwendet. Für Schätzungen zur Zeitersparnis beim intelligenten Parken stützten wir uns auf Werte von Inrix: Laut den Verkehrsexperten kann die Navigation zu einem leeren Parkplatz, anstatt auf der Suche nach einem (auf und abseits der Straße) zu kreisen, leicht 5 bis 10 Minuten der durchschnittliche Reisedauer ersparen (Inrix 2017). Aufgrund der Verwendung von Durchschnittswerten und einer abstrakten Position geben wir zu diesem Zeitpunkt nur eine Trendanzeige an, wie in Abbildung 5 dargestellt (dieses Modell wurde mit spezifischen Situationen für Berlin erneut ausgeführt und hat quantitative Schätzungen für Zeiteinsparungen geliefert, die unsere Trendanzeige bestätigen).
  • Zum anderen ist die Reisezeit lediglich ein primärer Leistungsfaktor – jedoch nicht der einzige Faktor –, da die menschliche Entscheidungsfindung auf Verbraucherebene kompliziert ist – wie jeder, der eine Familie, einen Partner oder Kinder hat, ohne Weiteres bestätigen kann.
  • Nicht zuletzt ist der Nutzen für den Endkunden lediglich eine notwendige Voraussetzung (Bedingung erster Ordnung). Ob dieser Nutzen gewinnbringend eingesetzt oder „monetarisiert“ werden kann, ist eine ganz andere Frage – jedoch eine wichtige Frage für alle Geschäftsvorhaben, bei denen der Nutzen für den Endkunden sich rentieren soll (quasi eine Bedingung zweiter Ordnung). Für die Analyse dieser hinreichenden Bedingung wäre jedoch eine andere Modellierung mit anderen Variablen erforderlich, z. B. die Branchenstruktur. Ist der Markt offen, kann jedes Scooter-Unternehmen an den Markt gehen (freier Wettbewerb)? Oder ist der Marktzugang beschränkt: Nur eine Genehmigung pro Stadt (Angebotsmonopol) oder vier (Oligopol)? Ende 2019 beschloss beispielsweise die San Francisco Municipal Transportation Agency (SFMTA), vier E-Scooter-Unternehmen die Genehmigung zur stadtweiten Vermietung von bis zu 10.000 E-Scootern zu erteilen (Link). Unterschiedliche Marktstrukturen bilden die Grundlage für unterschiedliche Preisgestaltung und Rentabilität – unabhängig vom Mehrwert für den Endkunden. An dieser Stelle sollte lediglich dargelegt werden, dass der intermodale Verkehr kein inhärentes Problem hinsichtlich des Nutzens für den Endkunden mit sich bringt.

Eine detailliertere Erläuterung ist einem längeren Artikel von Langdon zu entnehmen, auf dem dieser Abstract beruht; erhältlich beim Drucker Customer Lab: Link.

Dieses Modell wurde für einen spezifischere Erfassung in Berlin erneut ausgeführt. Es liefert quantitative Schätzungen für Zeitersparnisse, die unsere Trendanzeige bestätigen: Schauen Sie hier für den zweiten Teil vorbei: Link.

Quellen

Civity. 2019. E-Scooter in Deutschland – Ein datenbasierter Debattenbeitrag. Civity Management Consultants, Hamburg, link

Civity. 2014. Urban mobility in transition? The importance of free-floating carsharing for transport and the economy. Matters No. 1, Civity Management Consultants, Berlin

Follmer, R. 2020. Mobilitätsreport 01, Ergebnisse aus Beobachtungen per repräsentativer Befragung und ergänzendem Mobilitätstracking bis Ende Mai. Ausgabe 29.050.2020, Bonn, Berlin, mit Förderung des BMBF, Federal Ministry of Education and Research

Follmer, R., and D. Gruschwitz. 2019. Mobility in Germany, short report. Edition 4.0 of the study by Infas, DLR, IVT and Infas 360 on behalf the Federal Ministry of Transport and Digital Infrastructure (BMVI) (FE no. 70.904/15). Bonn, Berlin.

Hoffman, R., and C. Yeh. 2018. Blitzscaling: The Lightning-Fast Path to Building Massively Valuable Companies. HaperCollins: London

Inrix. 2017. Searching for Parking Costs Americans $73 Billion a Year. Press release (July 12)

Krajzewicz D., J. Erdmann, M. Behrisch, and L. Bieker. 2012. Recent Development and Applications of SUMO – Simulation of Urban Mobility. International Journal on Advances in Systems and Measurements 5 (3&4): 128-138

Nobis, C., and T. Kuhnimhof. 2018. Mobilität in Deutschland – MiD Ergebnisbericht. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur (FE-Nr. 70.904/15), Bonn, Berlin, link

Schlueter Langdon, C. 2014. 3-Step Analytics Success with Parsimonious Models. In: Wang, J. (ed.). Encyclopedia of Business Analytics and Optimization. Idea Group Publishing: Hershey, PA; London: 1-13

Schlueter Langdon, C. 2005. Agent-based Modeling for Simulation of Complex Business Systems: Research Design and Validation Strategies. International Journal of Intelligent Information Technologies 1(3) (July-September): 1-11

Simon, H.A. 1996. The sciences of the artificial (3rd edition). Cambridge, MA: The MIT Press

Smith, V.L. 1962. An experimental study of competitive market behavior. Journal of Political Economy 70: 111-137

UVK Berlin, Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. 2017. Mobilität der Stadt – Berliner Verkehr in Zahlen 2017. Dezember, Berlin

Chris S. Langdon
Chris S. Langdon

Business Lead, Data Analytics Executive, Catena-X Product Manager

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