Kein Vorankommen im Verkehr: Wie schlimm steht es – altern wir schneller – was können wir tun?

Meist besuchte Erkenntnisse

Das hat jeder schon einmal erlebt: Einen wichtigen Termin zu verpassen, weil man im Verkehr feststeckt. Wir lesen darüber in den Zeitungen: Ständig mehr Fahrzeuge und Fahrten, längere Pendelzeiten, mehr Staus, größere Verspätungen, Luftverschmutzung, Verkehrslärm und Unfälle. Für diese Themen gibt es sogar eigene Nachrichtenformate im Fernsehen und Internet: Verkehrs-Shows ähnlich dem Wetterbericht … und in Los Angeles, „der Entertainment-Hauptstadt der Welt“, gibt es natürlich eine Live-Berichterstattung aus Hubschraubern von Sendern wie KTL5 und KCAL9 (siehe Abbildung 1). Anscheinend verdient jemand damit tatsächlich Geld.

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Abbildung 1: Live-Verkehrsberichterstattung in Los Angeles (ABC7 2015)

Stau weltweit

Wie schlimm steht es also? Es zeichnet sich ein zunehmend düsteres Bild ab: China hat durch seine starke Luftverschmutzung und immer länger werdende Verkehrsstaus traurige Berühmtheit erlangt (NASA Earth Observatory 2020, Link; Jiaozheng 2017). Doch auch in Europa nehmen die Pendelzeiten von Jahr zu Jahr zu (Eurostat 2019, Link). In den letzten zehn Jahren war hier ein Anstieg von ca. 10 Prozent zu verzeichnen (Trades Union Congress 2019, Link). In Deutschland zählt Berlin zu den verkehrsreichsten Großstädten – nur in Hamburg ist die Verkehrsbelastung noch höher. 2019 betrug die Staubelastung in Berlin 32 Prozent, d. h., eine Fahrt, die normalerweise 30 Minuten in Anspruch nehmen würde, erfordert 32 Prozent mehr Fahrtzeit (TomTom Traffic Index Ranking 2019, Link). In Berlin würde man also fast eineinhalb Jahre verlieren, wenn man tatsächlich über vier Jahre seines Lebens im Auto verbrächte (Citroën 2016).

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Abbildung 2: Wichtige Leistungsindikatoren der Mobilität in Deutschland, 2020

Die Lücke in der Mobilitätsleistung

In anderen Branchen wie der Unterhaltungsindustrie, Telefonie oder Kommunikationsbranche ging es in Bezug auf die Leistungsfähigkeit immer steil bergauf. Wenden wir uns zunächst der Kommunikationsbranche zu: Vor nicht allzu langer Zeit kostete ein interkontinentaler Anruf noch ein Vermögen – der Verfasser kann sich noch gut daran erinnern, in den frühen 1990ern mehrere DM pro Minute zahlen zu müssen, um mit einer Freundin in der „Neuen Welt“ zu sprechen – heute dagegen sind die Beträge verschwindend gering (Deutscher Bundestag 2003). Und in der Unterhaltungsindustrie: Anno dazumal waren Musik oder Theater allein Königen vorbehalten. Den einfachen Leuten fehlte schlicht das Geld, um sich ein eigenes Orchester oder Ensemble zu leisten. Heute können wir buchstäblich mit nur einem Klick Musik hören und Filme schauen – überall und jederzeit. Man braucht nur an Spotify für Musik und Netflix für Filme zu denken. Zwar ist es nicht kostenlos, aber für ein Massenpublikum durchaus erschwinglich. Mit dem Wandel von der analogen zur digitalen Technologie ist die Leistungsfähigkeit förmlich explodiert: Die Qualität der Produkte und Dienstleistungen ist gestiegen und die Kosten sind bis in den Cent-Bereich gesunken.

Vor gut einhundert Jahren ließ die Erfindung des Automobils weite Entfernungen schrumpfen und ermöglichte die individuelle Mobilität – das erinnert an das Leben der Cowboys: uneingeschränkte Freiheit, das Streben nach Glück … In letzter Zeit hat sich die Reisegeschwindigkeit jedoch nicht mehr erhöht, sondern verringert. Vor allem in urbanen Räumen. Längere Pendelzeiten und mehr Staus. Nutzer des öffentlichen Personennahverkehrs trifft es mitunter doppelt hart: Zunächst steht der Bus ebenfalls im Stau und dann verpasst man deswegen – oder aufgrund einer ungünstigen Taktung – auch noch seinen Anschluss. Dass man in diesem Fall sogar noch länger warten muss, ist ja klar.

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Abbildung 3: Verkehrsschnappschuss in Deutschland (INRIX 2020, Umweltbundesamt 2020)

Und das Preis-Leistungs-Verhältnis ist paradox … kein freier Markt?

Die Leistung verschlechtert sich, doch der Preis ist gestiegen, stark gestiegen – und das schneller als die Inflation (z. B. in Deutschland: „Die Preise […] steigen seit Jahren mehr als doppelt so schnell wie der Durchschnitt“, Link; und in Großbritannien: Link). Wenden wir uns der Parksituation zu: Früher brauchte man Kleingeld – wenige Groschen – für die Parkuhr. Bei den erheblich gestiegenen Gebühren heutzutage muss man direkt die Kreditkarte auspacken. Jedes Wirtschaftslehrbuch hätte sinkende Preise vorausgesagt. Das lehrt uns schon unsere Erfahrung. Derselbe Computer oder Fernseher ist heute günstiger als noch im letzten Jahr. Projiziert auf den ÖPNV ist der Bus derselbe wie letztes Jahr, der Sitz im Zug ist derselbe wie letztes Jahr – sogar wie vor zehn Jahren – aber der Fahrpreis ist gestiegen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, planen einige Städte wie Los Angeles eine Citymaut. Zunächst muss der Steuerzahler für die Instandhaltung der Straßen aufkommen und dann wird er für deren Nutzung noch einmal zur Kasse gebeten (Bloomberg 2020) Eine Citymaut an sich ist ein Eingeständnis eines vorliegenden Leistungsproblems und verschleiert zudem das Ausmaß des Preisanstiegs. Das entspricht nicht dem, was uns in der Schule und an der Uni beigebacht wurde. Im Wirtschaftslehrbuch wird dies als Marktversagen bezeichnet. Und man nennt einige Ursachen – zum Beispiel Marktbeherrschung und unzureichende Informationen oder mangelnde Markt- und Preistransparenz (siehe z. B. Tirole 2015, 1988).

Macht Liebe blind?

Widmen wir uns dem letzten Punkt – der Markttransparenz – etwas ausführlicher. Ohne Transparenz versagen Märkte. George Akerlof erhielt den Wissenschafts-Nobelpreis, weil er dieses Problem entschlüsselte und Lösungen entwickelte (von denen es einige als sogenannte „Lemon Laws“ auf dem Gebrauchtwagenmarkt zu Ruhm gebracht haben; Akerlof 1970).

Märkte können uns unsere Entscheidungen häufig nicht durch transparente Verbraucherentscheidungen erleichtern. So lassen sich Angebote beispielsweise nur schwer vergleichen: 150 Gramm gibt es für 1,29, 200 Gramm kosten 1,69 – wofür soll man sich entscheiden? Und dann kommt vielleicht noch eine emotionale Komponente ins Spiel, wenn die 150-Gramm-Packung schicker aussieht. Durch den derzeitigen Wandel hin zu einer Welt der Dienstleistungen und Abonnements sind Entscheidungen nicht gerade einfacher geworden. Anstelle etwas für eine ordentliche Stange Geld besitzen zu wollen, zahlen wir lieber kleine Summen für dessen Nutzung. Beispielsweise kauft sich kaum noch jemand ein Lied per MP3 oder auf CD, sondern meldet sich einfach bei Spotify an, um es jederzeit und überall hören zu können. Wir Verbraucher kennen den Unterschied zwischen dem Eigentum an etwas und dessen bloßer Nutzung sehr genau, aber es kann auch verwirrend sein. Nehmen wir meine Kaffeetasse, die aus diesem berühmten Coffee-Shop jenseits des großen Teichs stammt (Dean & Deluca in Manhattan). Sie gehört mir, sie bedeutet mir etwas. Also lass‘ sie bitte nicht fallen, da der Henkel abbrechen könnte. Die anderen Tassen, die ich benutze, sind mir vollkommen egal, ich achte nicht auf sie. Alles, was mich beschäftigt, ist die richtige Menge Wasser für meinen doppelten Espresso … Lass‘ es bloß kein Americano werden. Der Inhalt ist wichtig, nicht das Gefäß. Mit dem Eigentum scheint also eine gewisse emotionale Komponente verbunden zu sein, die unsere Entscheidungen beeinflusst. Die folgende Theorie unterstützt diese Annahme: Richard Thaler erhielt den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, weil er psychologische Merkmale analysierte, die unsere Entscheidungsfindung verschleiern und uns ablenken, uns zu irrationalem Verhalten verleiten (Link). Demzufolge  ist mir ein Kaffeebecher wichtig, der mir gehört, obwohl es mir eigentlich nur um den Kaffee geht.

Kaffeebecher und Autos

In der Mobilität könnte sich diese gestörte Entscheidungsfindung durch ein stärkeres Augenmerk auf das Beförderungsmittel – wie das Auto – gegenüber der Beförderung von A nach B an sich äußern. Unsere emotionale Verbindung zu Autos könnte aufgrund des Mangels an geeigneten „Referenzwerten“ verstärkt werden. In seiner Arbeit zu „mentaler Buchführung“ nennt Thaler zahlreiche Beispiele, die veranschaulichen, wie Verbraucher ohne geeignete Referenzwerte (z. B. der Preis für 100 Gramm) mehr für weniger zahlen (Thaler 1999, 1985). Schauen wir uns eine beliebige renommierte Organisation oder Publikation wie den allgemeinen deutschen Automobilclub ADAC an. Dieser bietet den „ADAC Autokosten-Rechner“ (Link). Für eine Unmenge an Fahrzeugen verschiedener Marken und Typen liefert dieser eine gründliche Kostenanalyse mit konsolidierten Ergebnissen zu „Gesamt/Monat“ und „Cent/km“ (jeweils für die „Kostenermittlung für 60 Monate Haltedauer oder 15.000 km Fahrleistung im Jahr“). Oder nehmen wir die Investment-Bank Goldman Sachs. Auch sie gibt die Kosten für ein Auto pro Wegstrecke an, um sie mit Alternativen wie Fahrdiensten zu vergleichen (Goldman Sachs 2019, S. 12). Und fast immer stellt sich der Besitz eines Autos als günstiger heraus und gewinnt den Vergleich. Aber, Moment mal. Wie kaufen wir Kaffee? Zuerst die Tasse, dann den Kaffee? Ordern wir Mobilität pro Kilometer? Überlegen wir „wie lang ist wohl die Strecke von A nach B?“ Oder denken wir eher: „Wie lange dauert die Fahrt und wie teuer ist sie?“ Auf die meisten trifft wohl die zweite Variante zu. Und ebenso haben wohl die wenigsten eine Ahnung, wie viel die Nutzung des eigenen Autos pro Wegstrecke kostet. Wozu auch? Man hat schließlich bereits für das Auto gezahlt (oder zahlt immer noch den Kredit ab) und interessiert sich nur für die zusätzlichen variablen Kosten wie Tanken und Parken (vielleicht auch Knöllchen). Viele von uns sind möglicherweise einfach ein Opfer des „Autostolzes“. Das Auto ist nicht nur Transportmittel, sondern hat möglicherweise eine wichtige symbolische und affektive Bedeutung für uns, wie z. B. Status, Wohlstand und soziale Stellung (Moody & Zaho 2019, Hazan et al. 2020).

Der Denominator-Unterschied

Wenn wir eine andere Sicht einnehmen, den Nenner ändern, stellt sich das Entscheidungsproblem plötzlich ganz anders dar. Im Hinblick auf die Kosten für die Nutzung pro Minute zeigt sich das Auto als extrem teure Wahl (Schlueter Langdon 2019). So ist es beispielsweise wesentlich teurer als jedes öffentliche Verkehrsmittel. Der Unterschied ist gigantisch: Das Auto kann gut 100 Prozent teurer sein. Würde uns das jemand am Punkt A sagen, sähen viele von uns den öffentlichen Nahverkehr wahrscheinlich mit anderen Augen, 100 Prozent ist ein erheblicher Aufschlag. Doch die Entscheidung für die teurere Variante fällt zu dem Zeitpunkt, an dem das Auto gekauft wird. Nach dem Kauf geht es nur darum, nicht rückholbare Kosten wieder zurückholen zu wollen. Dabei steigen die Kosten bei jeder weiteren Fahrt durch Tank- und Parkkosten nur noch weiter. Das führt zu höheren Gesamtkosten: Aufgrund des häufigeren Gebrauchs sinken jedoch die Nutzungskosten pro Minute ein bisschen. Ein Schnäppchen wird es trotzdem nicht – der Aufschlag liegt immer noch bei knapp 100 Prozent.

Neue Technologien und Mobilitätsangebote – Was nun?

Zahlreiche neue Mobilitätstechnologien sind entstanden: Die verbreitete Nutzung von Smartphone und Apps (mobile Karten, Turn-by-Turn-Navigation, Bezahlen per Smartphone) hat Fahrdienste, Fahrgemeinschafts- und Car-Sharing-Angebote (wie Uber, Free Now und Lyft) möglich gemacht. Und bessere Akkus haben die Innovation bei Zweirädern wie E-Bikes und E-Scootern vorangetrieben – in Deutschland mussten sogar Gesetze geändert werden (eKFV 2019, Link).

Die neue Technologie wird als Grundlage für neue Wege der Beförderung wie der intermodalen Mobilität gesehen, die Merriam-Webster als „Beförderung mit mehr als einem Verkehrsmittel während einer einzigen Reise“ definiert (Merriam-Webster 04.11.2020). Besonders E-Scooter wurden sehr positiv aufgenommen, da sie „eine ideale Ergänzung zu Bus und Bahn für die letzten Kilometer zum Ziel sein [können]. Dadurch wird der öffentlichen Personennahverkehr attraktiver und es können Autofahrten reduziert werden“ (Achim Berg, Präsident von Bitkom, dem Digitalverband Deutschlands, Link, 2019).

In dicht besiedelten Städten mit (a) leistungsfähigen öffentlichen Massentransportsystemen (z. B., London Tube, Transport for London, Link), Berliner U-Bahn (Berliner Verkehrsbetriebe/BVG, Link), Pekinger U-Bahn (Link), (b) neuen Optionen für den letzten Kilometer, wie Bike-Sharing (Jump, Mobike; Übersicht, Link) und E-Scootern (Lime, Tier usw.), und (c) neuen Sharing-Angeboten und Fahrdiensten (Berlkoenig von ViaVan und BVG in Berlin, Link; Moia von Volkswagen in Hamburg, Link) können diese Beförderungsoptionen miteinander verbunden werden, damit am Ende eine wirkliche Alternative zur Nutzung des eigenen Autos geboten wird. Dadurch ließen sich die mit Autos verbundenen Nachteile wie Schadstoffe, Lärmpegel und nicht zuletzt Gefahren für weniger geschützte Verkehrsteilnehmer von den Straßen verbannen. Darüber hinaus könnte an sehr gefragten Orten mehr Platz entstehen (siehe „Space Race“, Link).

Wie kann ein solches intermodales verkehrsmittelübergreifendes Konzept funktionieren? Bringt es überhaupt einen Mehrwert? Profitieren Verbraucher dadurch wirklich? Das werden wir in unserem nächsten Beitrag erkunden: Mobility Analytics #4: Link

Quellen

Akerlof, G.A. 1970. The Market for ‚Lemons‘: Quality Uncertainty and the Market Mechanism. Quarterly Journal of Economics 84(3): 488–500

ABC7. 2015. Traffic gripes: Does rush hour in Los Angeles ever end? Eyewitness News (May 13), link

Bitkom. 2019. E-Scooter sollen beim Klimaschutz helfen. Press release (May 6), Berlin, link

Bloomberg. 2020. It’s Time to Try Congestion Pricing in L.A. City Lab (July 2nd), link

Citroën. 2016. CITROËN – Our Lives Inside Our Cars. European Survey (August), CSA Research, link

Deutscher Bundestag. 2003. Tätigkeitsbericht 2002/2003 der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post – Bericht nach § 81 Abs. 1 Telekommunikationsgesetz und § 47 Abs. 1 Postgesetz und Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 81 Abs. 3 Telekommunikationsgesetz und § 44 Postgesetz. Drucksache 15/2220, Berlin, link

Goldman Sachs. 2019. The future of mobility. Equity Research. (June 4th), link

Hazan, J., B. Fassenot, A. A. Malik, and J. Moody. 2020. What drives drivers? How to influence mobility behaviors. Boston Consulting Group/BCG Henderson Institute, Boston

Jiaozheng Research and Development. 2017. Opinions of the Ministry of Transport on Comprehensively Promoting the Development of Green Transportation. Issue 186 (November 17th), link

Jones, W.B., C.R. Cassady, R.O. Bowden. 2000. Developing a Standard Definition of Intermodal Transportation. Transportation Law Journal 27 (3): 345-352

Moody, J., and J. Zhao. 2019. Car pride and its bidirectional relations with car ownership: Case studies in New York City and Houston. Transportation Research Part A: Planning and Policy, 124: 334-353

Schlueter Langdon, C. 2020. Quantifying intermodal mobility: A parsimonious model and simulation. Working Paper (WP_DCL-Drucker-CGU_2020-06), Drucker Customer Lab, Drucker School of Management, Claremont Graduate University, Claremont, CA, link

Thaler, R.H. 1999. Mental Accounting Matters. Journal of Behavioral Decision Making 12: 183-206

Thaler, R.H. 1985. Mental Accounting and Consumer Choice. Marketing Science 4: 199-214

Tirole, J. 2015. Market Failures and Public Policy. American Economic Review 105(6): 1665–1682

Tirole, J. 1988. The Theory of Industrial Organization. MIT Press: Cambridge, Massachusetts

Chris S. Langdon
Chris S. Langdon

Business Lead, Data Analytics Executive, Catena-X Product Manager

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